Herkules am Scheideweg

Entscheidungen gehören zum menschlichen Dasein und bestimmen oft maßgeblich den Lebensweg. Aber auch Helden wie der junge Herkules müssen sich diesem inneren Konflikt stellen. Tugend und Laster stehen für entgegengesetzte Lebensformen. Wird Herkules der Verführung erliegen oder dem Pfad der Ehre folgen? 

Herkules am Scheideweg

um 1625
Öl auf Leinwand, 61 x 75 cm
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister

Allgemeines zum Bild:

Sandrart betont die Vielseitigkeit von Liss und bemerkt dieser habe in seinen Bildern „die antiche und moderne Manier gleichsam untereinander wunder-zierlich temperirt“.¹ Klessmann weist in diesem Zusammenhang auf die in Rom entstandenen Darstellungen mythologischer Themen hin, mit welchen Liss eher klassischen Traditionen folgte. So auch bei der Darstellung seines Gemäldes Herkules am Scheideweg, welches auf die Jahre 1624-25 datiert wird und als Beweis dafür gilt, dass Liss mit der antiken Manier, was nach damaligen kunsttheoretischen Kriterien Ordnung und Regelmäßigkeit, Gesetzmäßigkeit und Ideal bedeutete, umzugehen versteht.²

Das Thema der Darstellung beruht auf einer Schrift des Sophisten Prodikos von Keos und handelt von dem Helden Herkules, welcher sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden an einen abgelegenen Ort begibt, um zu entscheiden welchen Lebensweg er einschlagen wird.  Das Gemälde zeigt Herkules mit den Attributen Keule und Löwenfell, inmitten zweier weiblicher Personen: der züchtig gekleideten Virtus links, und der verführerischen Voluptas rechts. Die Tugend verweist mit einer Handgeste Richtung Himmel und verheißt ihm mühevolle Tage im Austausch für Ruhm und Unsterblichkeit, während die Verführerin ihm Sorglosigkeit und Genuss verspricht. Auch wenn Herkules sehnsuchtsvoll Richtung Voluptas blickt, scheint der entscheidende Schritt bereits angesetzt zu sein.

Details

Vergleichswerke

Johann Liss, Die Verzückung des heiligen Paulus, 1628/29, Öl auf Leinwand, 80 x 58 cm, Berlin, Gemäldegalerie

Eine stilistische Ähnlichkeit sieht Klessmann bei Herkules am Scheideweg und der Versuchung des Heiligen Antonius besonders in Bezug auf Kleider und Stoffe, bei denen der Farbklang Goldgelb, Weiß und Rot dominiert. Ebenso verwendet Liss bei beiden Darstellungen dasselbe Modell als entblößte Versucherin. Es wird von einer ca. zeitgleichen Entstehung der Gemälde in den Jahren 1624-1625 ausgegangen.

Annibale Carracci, Herkules am Scheideweg, 1595-1597, Öl auf Leinwand, 167 x 237 cm, Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte

1595 greift Annibale Carracci bei der Darstellung seines Herkules am Scheideweg für das Camerino des Palazzo Farnese in Rom, auf das Relief der Hesperiden der Villa Albani zurück. Mit der „Rekonstruktion einer ideellen Antike“ schafft Carracci eine Gestaltung der Herkulesfabel von Prodikos mit „kanonischer Geltung“¹⁰. Der in sitzender Stellung dargestellte Herkules Carraccis scheint, anders als Liss´ Herkules welcher bereits entschieden hat, noch über seine Entscheidung nachzudenken. Liss, welchem diese Darstellung bekannt gewesen sein dürfte, orientiert sich daran, emanzipiert sich jedoch so weit vom Einfluss des kanonischen Vorbildes, dass sein Herkules am Scheideweg als neu interpretiertes Thema innerhalb seiner Epoche gilt.¹¹

Tizian und Caravaggio als Vorbild für Liss´ Voluptas

Uneinigkeit besteht bei den Autoren Steinbart und Klessmann über mögliche Vorbilder für Liss` Voluptas. Während Steinbart die Figur dem Bewegungsmotivs des Bacchus aus Tizians Gemälde Bacchus und Ariadne (1520 – 1522, Öl auf Leinwand, 176,5 x 191 cm, London, National Gallery) entspringen sieht, führt Klessmann an, dass die Figuren der Voluptas in der Malerei des 17. Jahrhunderts, direkt oder indirekt, auf Caravaggios Amor als Sieger (1601/02, Öl auf Leinwand, 156 x 113 cm, Berlin, Gemäldegalerie) zurückgehen. Dieser dürfte auch Liss nicht unbekannt gewesen sein.¹²

Exkurse

Herkules als frühneuzeitlicher Topos

Der allgemeingültige Anspruch der Tugendhaftigkeit des Herkules führte in der Frühen Neuzeit zu einer starken Verbreitung des Mythos innerhalb Europas. Der Prozess nahm seinen Anfang in Italien wo sich bereits im 14. Jahrhundert italienische Stadtstaaten die positiven Qualitäten von Herkules auf ihre Fahnen schreiben. Die Vorbildfunktion des antiken Helden besaß aber auch Identifikationspotential in konkret persönlichem Kontext. Dementsprechend erfolgte der Vergleich oder auch die Gleichsetzung von Fürsten mit dem antiken Helden, innerhalb Europas, in zahlreichen bildlichen Darstellungen: Attribute von Herkules zierten das Wappen von Fürsten, Herkules trat als Begleitung oder gar als Personifikation des Herrschers auf oder im eindeutigsten Fall erschien Herkules im Gewand des Fürsten mit dessen Gesichtszügen.¹³ Selbst kirchlich-religiöse Vertreter wie Martin Luther oder Huldrych Zwingli nutzten die Kraft des Helden bei der Umsetzungen ihrer Reformationsbestrebungen. Von fast allen heute als bedeutend geltenden Künstlern aus Malerei und Skulptur des 16. bis 18. Jahrhunderts ist, so wie auch von Johann Liss, mindestens ein Herkules überliefert.¹⁴

Tugendhaftes Reisen

Lässt sich die Entscheidung des Herkules auch auf den Akt des Reisens übertragen? Folgt man den Vorstellungen von Justus Lipsius (1574-1606), einer der zentralen Gelehrten des Neostoizismus und Humanismus der Niederlande, dann gab es ein Grundmodell für korrektes, erfolgversprechendes und tugendhaftes Reisen. Lipsius, welcher als Bindeglied zwischen Gelehrten, Künstlern und Buchdruckern fungierte, ermunterte seine Anhänger stets zum Reisen, insbesondere zur Reise nach Italien, da er das Land aus zahlreichen eigenen Erfahrungen kannte. Um einen langfristigen Nutzen zu erzielen, sollte eine Reise nach drei Aspekten ausgerichtet sein: das Aneignen von Wissen, Klugheit und Tugend. Lipsius warnte davor sich während der Reise vom Vergnügen ablenken zu lassen, da dies Gefahren berge, welche um des Erfolges willen unbedingt zu vermeiden seien.¹⁵ Ob Johann Liss die Empfehlungen von Justus Lipsius kannte und womöglich auf seinen Reisen befolgte ist leider ungewiss. Seinen Herkules zumindest ließ er der Tugend folgen.

Autorin: Katharina Baumstark

Endnoten
¹ Klessmann 2009, S. 80 u. 82
² Klessmann 2009, S. 81
³ Klessmann 1975, S. 111
 Panofsky 1930, S. 156
 Steinbart 1940, S. 86

 Steinbart 1940, S. 86
 Klessmann 2009, S. 62
 Ebd., S. 62
 Panofsky 1930, S. 126
¹⁰ Ebd., S. 126

¹¹ Klessmann 1999, S. 345
¹² Klessmann 1975, S. 112
¹³ Dingel 2010, S. 87
¹⁴ Dingel 2010, S. 95
¹⁵ Tacke 2020, S. 68

Bibliographie

DINGEL, Irene, Auf dem Weg nach Europa: Deutungen, Visionen Wirklichkeiten, Göttingen 2010

KLESSMANN, Rüdiger: Johann Liss: Ausstellung unter dem Protektorat der Präsidentin des Deutschen Bundestages Frau Annemarie Renger und des International Council of Museums (ICOM); [Augsburg, im Rathaus vom 2. August – 2. November 1975; Johann Liss Exhibition in the Cleveland Museum of Art, 17. Dezember 1975 – 7. März 1976], Augsburg: Pr.-Dr.-und Verl.-GmbH, 1975

KLESSMANN, Rüdiger: Johann Liss. Eine Monographie mit kritischem Œuvrekatalog, Doornspijk, 1999a.

KLESSMANN, Rüdiger, Neue Funde und Betrachtungen zum Werk von Johann Liss, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3.F. 60.2009, S. 59-90.

PANOFSKY, Erwin, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930

STEINBART, Kurt: Johann Liss. Der Maler aus Holstein, Berlin, 1940

TACKE, Andreas, Künstlerreisen. Fallbeispiele vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Petersberg 2020