Der Sturz des Phaetons

Aus Liss‘ römischer Periode stammt dieses Gemälde, dass sich stilistisch eng an die Toilette der Venus anschließt, die zur gleichen Zeit entstanden ist. Johann Liss gibt der Geschichte Phaetons einen anderen Fokuspunkt und stellt die Reaktionen der Umgebenden in den Vordergrund.

Der Sturz des Phaeton

um 1624
Öl auf Leinwand, 126,5 x 110,3 cm
National Gallery, London

Allgemeines zum Bild:

Steinbart ordnet das Gemälde in das Kapitel über die verschollenen Gemälde seiner Monographie von 1940 ein.¹ In seinem Text von 1946 befasst er sich im mythologischen Teil damit und schreibt es in einen thematischen Zyklus ein, der durch stilistische und formale Ähnlichkeiten zusammen mit der Toilette der Venus, der Rückkehr von Adonis und der Entscheidung des Herkules verbunden ist. Er erwähnt, was Freyken Rijs in einem Katalog von 1709 angegeben hatte, nämlich die Existenz eines anderen größeren Gemäldes mit demselben Titel, vielleicht in der Villa Pamphili, das jetzt verloren gegangen ist.² 

Klessmann verstärkt die Komplexität derselben Gruppe von Nymphen im Vordergrund, die in eine wirbelnde Bewegung gehüllt ist, hervorgehoben durch das dunkle Tuch, das sie gleichzeitig hervorhebt und isoliert und einen drastischen Bruch mit der Landschaft im Hintergrund herstellt.
Die Landschaft unterstreicht eine Neuheit für Liss selbst, die vom Einfluss von Cornelis van Poelenburgh beeinflusst wird, auch wenn sie die Erfahrung seines Kollegen und Freunden mit römischer Monumentalität mindert, die aus Statuen und zeitgenössischer Malerei stammt. Mit van Poelenburgh hatte Johann Liss eine freundschaftliche Beziehung: beiden waren Mitgliedern der Verein „Schilderbent“ und dort bekam er auch seinen Spitzname Pan.

Als weitere Inspirationsquelle für das Gemälde führt Klessmann Werke von  Michelangelo, Francesco Albani, Bernini und den Carraccis (insbesondere Annibale mit seinem Freskenzyklus in der Galleria Farnese) an.³
In seiner Monographie von 1999 greift er die Theorie der beiden Exemplare des Sturzes von Phaeton auf, auch dank der gefundenen Vorzeichnung, die dieses Gemälde jedoch auch enger mit der fast gleichzeitig fertiggestellten Toilette der Venus verbinden könnte. 

Sowohl Steinbart als auch Klessmann zitieren Freyken Rijp, der 1709 einen Katalog über niederländischen Malerei verfasst hatte. Rjip schreibt über Liss und seinen Phaeton und beschreibt zwei verschiedene Varianten: ein kleineres Gemälde, das in den Niederlanden bei dem Sammler Hooft war, und ein deutlich größeres, das sich in Rom in der Villa Pamphilj befand.  Das zweitgenannte wurde wahrscheinlich verloren; stattdessen wurde das erstgenannte Gemälde 1948 kurzfristig wiederentdeckt und bei Christie´s verkauft. Denis Mahon, ein englischer Sammler, kaufte es und braucht es nach Großbritannien mit. Später schenkte er es der National Gallery in London, wo es sich heute noch befindet. 

Details

Vergleichswerke

Hendrik Goltzius, Der sturzende Phaeton (nach van Haarlem), 1588, Kupferstich, 33,5 cm Durchmesser, New York, MET

Eine besondere Erwähnung von Klessmann geht an Hendrik Goltzius oder, vielmehr, an Cornerlis van Haarlem, der mit seinem Zyklus der “Stürzenden” das Thema eines von hinten dargestellten Phaeton einführt, der darauf abzielt, den von Zeus Blitz in Stücke gerissenen Sonnenwagen zu betrachten. Dieser fällt im Hintergrund in Stücke gerissen in den Fluss Eridanus. Ixion hat uns aus dem van Haarlem-Zyklus erreicht, während wir die anderen drei (zusätzlich zu Phaeton, noch Tantalus und Ikarus) dank der Stiche von Goltzius aus dem Jahr 1588 kennen. Die Anlehnung von Liss’ Phaeton an diese Komposition ist deutlich erkennbar, auch wenn Liss sie in einen kompositorischen Zusammenhang einschreibt.

Reiseroute nach Rom - Ludovico Carracci, La caduta di Fetonte, Fresko, 1605-06, Bologna (früher in Palazzo Montecalvi)

Auf seiner Reise, auf der er Venedig verließ, um nach Rom zu reisen, hat Liss möglicherweise Bologna als ideale Kreuzung und äußerst künstlerisch aktive Stadt besucht, auch dank der Spuren, die die Carraccis in ihrer Heimatstadt hinterlassen haben. Sandrart selbst wird dieser Route einige Jahre später folgen, und es ist daher nicht ganz unwahrscheinlich, Liss, wenn auch nur für eine kurze Pause von der Reise, in der Stadt selbst zu platzieren. War er dort, kam er sicher in Berührung mit der Interpretation Ludovico Carraccis zum Thema des Phaeton. Stilistisch und in der Art der Komposition, insbesondere in der Auswahl des Fokuspunktes der Gemälde unterscheiden sie sich allerdings stark. In Ludovico Carraccis Phaeton finden wir die tragische und aufgeregte Wendung von Liss, obwohl sie die Szene mit ihrem berühmtesten Attribut, dem Sonnenwagen, völlig einnimmt und somit stark von letzterem abweicht. 

Exkurs

Ovid und die Metamorphose

Die Legende von Phaeton wird im zweiten Buch von Ovids Metamorphosen erzählt und beschreibt, wie der Sohn von Apollo nach einem Streit mit Epaphos seine Mutter Klymene bittet, die Wahrheit über seine Geburt zu erfahren. Sie wird ihm bestätigen, dass er der Sohn von Apollo ist. Um dies zu verifizieren und sich sicher sein zu können, wendet er sich nun direkt an den Sonnengott.
Phaeton bittet den Gott, ihm den Beweis seiner halbgöttlichen Herkunft zu erbringen, und ihm die Erlaubnis zu geben, seinen Wagen zu fahren. Der Sonnengott zögert allerdings und stimmt nicht zu. Er bittet Phaeton, ihn um einen anderen Beweis zu bitten und verspricht, ihm einen andere Bitte zu erfüllen. Für das Fahren des Sonnenwagens sei er allerdings noch zu jung und unerfahren. Nach einer intensiven Debatte will Phaeton die Zügel des Wagens seines Vaters übernehmen um zu beweisen, dass er dazu in der Lage ist, diesen zu lenken. Kurz darauf muss er allerdings erkennen, dass er sich geirrt hat und verliert die Kontrolle.
Der Wagen der Sonne ist in Unordnung und bringt Chaos und Verwüstung zwischen den Elementen: Das Wasser der Ozeane kocht, die Erde steht in Flammen und Flora und Fauna gehen zugrunde, weil der Sonnenwagen zu nahe kommt; die Göttin der vertraut Zeus ihre Klage an, der angesichts des von Phaeton verursachten Schadens den Sonnenwagen mit einem seiner Blitzschläge trifft und den jungen Mann in den Fluss Eridanus fallen lässt, wo er sterben wird.
Seine Heliaden-Schwestern trauern darauf hin sehr um ihn und verwandeln sich in Pappeln. Aus ihre Tränen werden Bernsteine.

Autorin: Silvia Mordini

Endnoten
¹ Bloch 1950, S. 278
² Steinbart 1946, S. 34-35
³ Klessmann 1999, S. 65-66
 Bloch 1950, S. 282 und Klessmann 1999, S. 69
 Ovid, 1. Buch 747 bis 2. Buch 400

Bibliographie

BLOCH, Vitale, Liss and his „Fall of Phaeton“, The Burlington Magazine, Vol. 92, N. 571, 1950, S. 278-282.

KLESSMANN, Rüdiger, Johann Liss: Ausstellung unter dem Protektorat der Präsidentin des Deutschen Bundestages Frau Annemarie Renger und des International Council of Museums (ICOM), Augsburg, 1975.

KLESSMANN, Rüdiger, Johann Liss. Eine Monographie mit kritischem Œuvrekatalog, Doornspijk, 1999a.

OVID, Metamorphosen, Sammlung Tusculum, hrsg. v. HOLZBERG, Niklas, De Gruyter, Berlin/Boston 2017, Online-Ressourcen, 895 Seiten

STEINBART, Kurt, Johann Liss. Der Maler aus Holstein, Berlin, 1940. 

STEINBART, Kurt, Johann Liss, Wien, 1946.