Judith im Zelt des Holofernes

Dieses wohl in Rom entstandene Werk präsentiert die Szene unmittelbar nach der Enthauptung des Holofernes durch Judith. Im Zelt des Heerführers gelingt es Judith mit Gottes Hilfe, ihren Feind mit dessen eigenem Schwert zu enthaupten und somit als Retterin der Stadt hervorzugehen.

Judith im Zelt des Holofernes

um 1622
Öl auf Leinwand, 128,5 x 99 cm
National Gallery, London

Allgemeines zum Bild:

Das Gemälde „Judith im Zelt des Holofernes“ von Johann Liss entstand vermutlich um 1622 und präsentiert die Szene unmittelbar nach der Enthauptung des Holofernes durch die Heldin Judith. Das Hochformat mit der Maße von 128,5 x 99 cm hängt heute in der National Gallery in London und wurde in Öl auf Leinwand gemalt.¹ Die Figurengruppe ist in einem zeltartigen Interieur eingebettet, welches in nächtlicher Dunkelheit gehüllt ist und nur durch einen kleinen Spalt im Zelt den Blick auf den Himmel dahinter freigibt.  Drei Figuren sind im Zentrum zu erkennen, die gestaffelt und ineinander verlaufend im Raum angeordnet sind. Diese werden durch ein helles Licht im Zentrum des Werkes erleuchtet und inszeniert vor allem die Person im Vordergrund dramatisch. Es ist die in Rückenansicht gezeigte Judith, die über den leblosen Körper des Holofernes gebeugt ist. Sie steht in wallenden, glänzenden Gewändern in der Mitte der Gruppe und hat ihren Blick aus dem Bild hinaus gerichtet, während sie mit ihrer linken Hand den abgetrennten Kopf von Holofernes an eine Figur im Hintergrund weiterreicht.

Hierbei handelt es sich um die Magd, die wie Judith einen bauschigen Turban trägt und zu ihrer Herrin hinaufschaut. Sie hält in ihren Händen einen Sack bereit, in den das Haupt gehüllt werden soll. Unter Judith hervortretend, ist der muskulöse Rumpf des Holofernes zu erkennen. Er liegt mit nacktem Oberkörper auf der Seite sein rechter Arm ruht heuvorgestreckt auf dem weißen Leinenstoff. Die Wunde von der Enthauptung ist frontal abgebildet und zeigt das hervorspritzende Blut in Strahlen und über den Arm des getöteten Feindes hinunterlaufen. Von diesem Werk malte der Künstler weitere vier Fassungen, wobei er immer die gleiche Komposition beibehielt, die Farben jedoch änderte.² 

Details

Vergleichswerke

Sacchis Giovanni Antonio/ Giovanni Antonio da Pordenone, Judith, 15. Jh., 95 x 78 cm, Öl auf Leinwand, Galleria Borghese, Rom

Nach Steinbarts Vermutungen hat sich Johann Liss von dem Werk des italienischen Künstlers Pordenone inspirieren lassen. Er malt seine Judith als eine elegante venezianische Dame, die von einer zarten Erscheinungsform ist. Sie weist eine sehr ähnliche Rückenansicht auf und eine ähnliche linke Drehung des Kopfes mit einem Blick aus dem Bild heraus. Und auch ein etwas kleinerer, aber feinerer Turban schlingt sich um ihren Kopf. Anders als bei Liss’ Judith, sitzt er jedoch ordentlich und enger um ihr Haupt. Auch ihre edle Kleidung in venezianischer Art ähnelt Johann Liss‘ Frauengestalt nur sehr wenig, da diese Gewänder in seinem Werk wallend und locker um den Körper fallen und ein unruhiges Bild der sich bewegenden Stoffe wiedergibt. Bei Pordenone scheint die gesamte Gestalt elegant und ordentlich. In Venedig war die Judith zu diesen Zeiten als Verkörperung der Sinnlichkeit und der erfolgreichen Schönheit in prächtigen Gewändern angesehen. Jenes Motiv scheint Pordenone in seiner Judith aufzugreifen. Dass Johann Liss dies nicht als Leitbild nutzte, ist vor allem jedoch an der muskulösen Schulterfreilegung zu erkennen, die nicht zart und still frei liegt, sondern allgemein von einer, wie es Steinbart beschreibt „derben“ und „gedunsen“ Erscheinungsform geprägt ist.

Cornelis Galle der Ältere nach Peter Paul Rubens, Judith enthauptet Holofernes, ca. 1610, 53,3x 37,8 cm, Kupfertafel auf Papier, Universitätsbibliothek Warschau, Warschau

Rüdiger Klessmann vermutet hinter dem Vorbild der Judith von Liss das Werk von Peter Paul Rubens. Es handelt sich dabei leider um ein heute verschollenes Werk, welches Liss vielleicht auf seiner niederländischen Reise in Antwerpen gesehen haben kann. Anhand des Kupferstichs der Judith von Cornelis Galle dem Älteren nach Peter Paul Rubens, ist das verschollene Werk nicht gänzlich verloren. Wieder befindet sich die Szene in einem Zelt wieder. Judith ist am Ausführen ihrer grausamen Tat und packt den Kopf fest an. Ein ähnliches Zupacken ist bei Liss‘ Judith am Schopfe des Holofernes zu erkennen. Besonders der vom Bett fallende Körper des Kriegers gleicht dem beinahe entgegenfallenden Rumpf in Liss‘ Bild. Die Arme sind in einer ähnlichen Pose auf den Laken drapiert und der Körper ist in beiden Werken äußerst muskulös wiedergegeben. Die Dienerin befindet sich in einer vergleichbaren Position hinter Judith und Holofernes, diese folgt jedoch nicht dem Geschehen, sondern wendet den Blick den von oben herabgleitenden Engeln. Eine weitere und wichtige Gemeinsamkeit haben die beiden Werke in der Erscheinungsform der Judith. Ihre Gewänder bei Rubens sind ähnlich wallend und bauschend mit einem feinen Glanz bezogen wie im anderen Werk. Ihre Schulter ist ebenfalls entblößt, dies ist durch den veränderten Winkel jedoch nicht ganz so auffällig, wie es bei Liss der Fall ist.  Auch auffällig ist, dass Judith nicht aus dem Bild hinausschaut und den Betrachter nicht einbezieht, sondern konzentriert auf die Enthauptung herunterschaut.¹⁰

Caravaggio, Judith enthauptet Holofernes, 1598/1599, 145x195 cm, Öl auf Leinwand, Galleria Nazionale d'Arte Antica, Rom

Im Vergleich mit Caravaggios Werk und Johann Liss‘ „Judith im Zelt des Holofernes“ werden einige Gemeinsamkeiten deutlich, die auf eine Vorbildfunktion Caravaggios für Liss hindeuten. Wir haben ein ähnlich grausames Bild wie bei Liss. Judith schlägt das Haupt ab, wobei Blut in Strömen aus der Wunde schießt. Auch diese Szene findet im Zelt des Holofernes statt, der sich hier allerdings noch im Todeskampf windet. Doch große Ähnlichkeit findet sich in den Hell-Dunkel-Kontrasten und im Kolorit wieder. Die scharfen Konturen, die die hellen Figuren im Vordergrund vom dunklen Hintergrund abheben, zeugen eindeutig von caravaggesken Züge bei Liss und führen hin zu der gewünschten Dramatik. Jedoch sind große kompositorische Unterschiede auffallend, wie etwa Judith, die fast frontal gemalt ist und ihre Magd deutlich sichtbar hinter sich stehen hat. Judith scheint im Werk von Caravaggio angeekelt und leicht zögerlich zu sein, während Liss Judith bestimmt und gelassen über ihre Schulter schaut und den Blickkontakt sucht. Die Judith von Caravaggio ist noch am Ausüben der Tat und ist ganz dem Tathergang gewidmet, trotz leichten Widerwillens. Die Magd, die hinter ihr steht, ist eine alte Frau im Profil mit einem runzeligen Gesicht. Sie ist diesmal nicht von ihrer Herrin verdeckt, steht ihr jedoch genauso hilfsbereit zur Seite mit dem Tuch in der Hand wie bei Liss.

Autorin: Selina Herrmann

Endnoten
¹ Key facts, Judith in the Tent of Holofernes, Johann Liss © 2016–2021 The National Gallery, London
² Steinbart S. 120
³ Klessmann S. 58
Steinbart S. 125

Steinbart S. 123
Klessmann S. 57
De Capoa S. 284
Ozim S. 45-66

Steinbart S. 121-123
¹⁰ Klessmann S. 58

Bibliographie

OZIM, Ulrike, Judith und die Magd. Zur Ikonografie in Judith und Holofernes-Darstellungen, Graz 2008.

DE CAPOA, Chiara, Erzählungen und Personen des Alten Testaments, Berlin 2004.

KLESSMANN, Rüdiger, Johann Liss. Eine Monographie mit kritischem Œuvrekatalog, Gent, 1999.

STEINBART, Kurt, Johann Liss. Der Maler aus Holstein, Berlin, 1940.

The National Gallery, Judith in the Tent of Holofernes, Johann Liss © 2016–2021 The National Gallery, London. https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/johann-liss-judith-in-the-tent-of-holofernes (24.03.21)